Captura

 von Stefan Nußbaumer

(…) Wenn ich jetzt mein Tagebuch zur Hand nehme, um die letzten drei Monate Revue passieren zu lassen, stoße ich direkt auf ein ”aaah”, datiert auf den 21. Juli 2009, ein paar Wochen vor der Abreise.
Dieses “aaah” empfand ich auch schon vor einem Jahr um Weihnachten und es bewegte mich dazu, meine Zusage für ein Jahr Peru bis auf¨s Letzte hinauszuzögern.
Kann ich so lange auf Familie und Freunde verzichten? Schon auf eigenen Beinen stehen?
Dieses “aaah” war also keine Torschlusspanik, sondern Ausdruck großen Zweifelns.
Doch jetzt lebe ich seit drei Monaten kein “Cuadra” weit entfernt von einer sehr belebten Kreuzung, inmitten der Metropole und zweitgrößten Wüstenstadt Limas und höre beim morgendlichen Toilettengang die Mikrobusse an mir vorbeisausen.
Breña ist mit 29 443 Einwohnern/km² zehnmal so dicht besiedelt wie Berlin und der größte Teil seiner Bevölkerung ist weder kranken- noch sozialversichert.
Arbeitslosigkeit, Alkohol und Drogenmissbrauch, Kriminalität und Gewalt kennzeichnen die Lebenssituation der Kinder.
Viele Familien leben dicht gedrängt in verslumten Quartieren mit schlechter Belüftung und unzureichenden sanitären Anlagen. Von Parks und Gärten zum Spielen können die Kinder nur träumen. Trotzdem gehört Breña nicht zu den ärmsten Vierteln Limas oder gar Perus.
Casa Belén, Teil des Sozialwerks der evangelisch-lutherischen Kirche in Peru, versucht bei den zahlreichen Problemen anzusetzen.

Den Kindern wird ein Raum und Zeit zum Spielen, Basteln, aber auch zum Lernen in angenehmer Atmosphäre und fernab von Gewalt und Kriminalität geschenkt und ihre Eltern erhalten so die Möglichkeiten einem Job nachzugehen, um ihren Kindern eine bessere Zukunft zu ermöglichen. (…)

 (…) Zum Weihnachtsfest der Casa Belén spielen wir (ich begleite am Keyboard) deutsche und peruanische Weihnachtslieder zum Krippenspiel der Kinder.
Fast der ganze Vorhof der Casa Belén ist besetzt von Eltern, Bekannten und Freunden, die unser monatelang einstudiertes Krippenspiel und ihre aufwendig verkleideten Kinder bestaunen.

So endete das Jahr 2009 für mich in der Casa Belén, in welcher ich mich mehr und mehr in meine Rolle als “auxiliar” (sinngemäß “rechte Hand”) der Erzieherin einfand. (…)

(…) Seit Anfang Februar arbeite ich nicht mehr mit den 4-Jährigen “Solidarios”, sondern mit der Gruppe der Schulkinder, die in der Casa Belén bei ihren Hausaufgaben unterstützt werden sollen.
Dafür wurden dieses Jahr zwei neue Lehrkräfte eingestellt. So arbeite ich zusammen mit Dante, einem Studenten von 25 Jahren, und Emmi.
Vor allem im Februar gab es eine Menge zu tun, denn die Kinder gehen erst im März wieder zur Schule und wir organisierten ihnen Tagesprogramme mit Gruppenspielen, Basteln, Kochen und Sport.
So wollte ich den Kindern z.B. das Fußballspielen mit all den wichtigen Techniken beibringen.
Finanziell unterstützt von meinem Großonkel konnte ich auch die benötigten Materialien (vor allem Hütchen, bei denen es sich eigentlich um umgedrehte Plastik-Suppenschüsseln handelt) einkaufen. (…)

Wassermangel und Erosion in den Anden

 Vor meinem Urlaub war ich im Dezember noch für ein “Klimaprojekt” des Welthauses Bielefeld in den Zentralanden Perus unterwegs.

Im Zuge des Klimawandels kommt es derzeit zu unberechenbaren Wetterextremen mit starken Hagelfällen und Regengüssen. Doch in den Zentralanden wird es in den nächsten Jahrzehnten zu einem riesigen Wassermangel kommen, wenn der Zufluss von den schmelzenden Andengletschern der Cordillera Blanca versiegen wird.
Aber auch schon jetzt kommt es trotz zunehmendem Gletscherwasserabfluss zu Wassermangel.

Denn die ansässigen Klein- und Kleinstbauern  pflegen keinen nachhaltigen Umgang mit ihrer Umwelt. So setzen sie durch gezielt entfachte Brände auf kurzfristige Ertragserfolge oder bauen Eukalyptus an, der als Bau- und Brennholz zwar sehr geschätzt wird, aber bis zu 70 Liter Wasser am Tag schluckt und ganze Quellen zum vertrocknen bringt.
Auf ihren oft sehr abschüssigen Feldern trägt der Regen die fruchtbarste Erdschicht ab und dennoch konnte ich auf meiner Reise selten den Terrassenbau entdecken, der diesen schädlichen Abtrag (Erosion) bekämpft und den die vor Jahrhunderten dort anbauenden Inka schon nutzten.

Als Hoffnungsschimmer begegnete mir aber die Arbeit der indigenen Bauernorganisation ADECAP, die die Bauern auf Quechua lehrt, den Boden nachhaltig zu bearbeiten und daher Terrassen anzulegen.

In einem kleinen, quechua-sprachigen Dorf auf 3000 Meter Höhe, wohin ich ADECAP-Mitarbeiter begleiten durfte, kam es dann auch dazu, dass ich mich unter den erstaunten Blicken der Bauern und Bäuerinnen auf Quechua vorstellte. (…)

Mein anderes Weihnachten

Meine Rückreise aus den Anden verzögerte sich am 24. Dezember dank eines riesigen Verkehrschaos mit Schneefall am Pass in 4800 Meter Höhe sowie Erdrutschen, so dass ich anstatt 7 ganze 14 Stunden für die Strecke von Huancayo nach Lima brauchte.
Ich kam aber gerade noch rechtzeitig zum Weihnachtsgottesdienst in der deutsch-lutheranischen Kirche in Lima an.
Das während des Gottesdienstes aufkommende Heimweh fingen zum Glück abends die Festlichkeiten in meiner peruanischen Familie auf, so dass meine Sehnsucht nach Bielefeld ein Ende hatte.

                                                                                                                                                                                

Die Stimmung mit acht Personen am Heiligen Abend war feierlich entspannt . Es gab reichlich zu essen, wobei der Truthahn das kulinarische Highlight bot. Ich fühlte mich insgesamt nun sehr wohl.

Um etwa Mitternacht gab es – nach einem weiteren Gebet  – die Bescherung. Für jeden der Anwesenden gab es genau ein Geschenk; ich bekam ein Hemd.
Also kein Konsumspektakel wie in Deutschland (…), sondern ein bescheiden-besinnliches Fest mit Feuerwerk in der ganzen Stadt, welches wir am Ende über den Häuserdächern aufblitzen sahen. (…)

Und jetzt?

Ich komme nach Deutschland zurück und mir scheint es, als habe sich nichts verändert.
Mir fällt es leicht mich wieder in mein „altes“ Leben einzuführen, und die Erlebnisse aus meinem Auslandsjahr erscheinen mir so unendlich weit weg. Doch etwas hat sich verändert: Ich mich!
Ich ging auch ins Ausland, um einmal im Abstand zu Deutschland und in Ruhe über meine Ziele für mein Leben nachzudenken.
Und unter den Eindrücken meines Auslandsjahres möchte ich nun gerne Medizin studieren.
Ich möchte mit einer guten Ausbildung ausgestattet zukünftig in der medizinischen Entwicklungshilfe tätig werden, weil es mich während meines Dienstes in der Casa Belén sehr ärgerte, Probleme festzustellen, die ich ohne pädagogische Ausbildung nicht lösen konnte.(…)
Daher möchte ich nochmal gut ausgebildet in der Entwicklungshilfe aktiv werden.

Hier in Deutschland hoffe ich aber auch schon entwicklungspolitisch aktiv werden zu können.
Ich will im Freundes-/ und Bekanntenkreis, und vielleicht auch in meiner ehemaligen Schule von meinen Erfahrungen berichten und mit Personen, die auch schon Erfahrungen in Lateinamerika oder in der Entwicklungszusammenarbeit gesammelt haben, in Austausch kommen, um Gesehenes und Beobachtetes besser einordnen zu können. Bisher habe ich noch wenig Kenntnisse über Entwicklungs-/ und Solidaritätsarbeit, aber ich habe Interesse daran in einer Ländergruppe mitzuarbeiten, zu lernen und Aktuelles aus Peru und anderen „Entwicklungsländern“ zu erfahren.
Für meine Zukunft wünsche ich mir weiter Kontakt zu den Schulkindern aus meinem Projekt zu halten und natürlich zu meiner Gastfamilie, die ich hoffentlich wieder besuchen kann!