Geht man in Lima durch den Stadtteil Breña und sucht die Casa Belén, so fühlt man sich regelrecht bedrückt: schäbige Häuser, von denen der Putz bröckelt, mit blinden und zerbrochenen Fensterscheiben, Strassen und Bürgersteige, die schon lange einmal einer Renovierung bedürft hätten, voller Unrat und Schmutz, und das Schlimmste: Menschen mit abgerissener Kleidung und bedrückten oder trostlosen Gesichtern bestimmen das Bild. Hier wohnen ganze Familien, bis zu zehn Personen in Einraumwohnungen. Eine Wasseranschlussstelle und eine Toilette sind für viele solcher Familien gemeinsam zu benutzten.

Was sich da allein wegen der drangvollen Enge und Armut, dem Alkoholismus und der Drogensucht, der Überforderung und der Verantwortungslosigkeit in diesen Zimmern abspielt, können wir nur ahnen. Die Sozialarbeiterin der Casa Belén läuft täglich durch den Stadtteil, berät, hilft und tröstet die Eltern der Kinder, die die Tagesstätte besuchen.

Sie versucht dabei, die oft alleinerziehenden Elternteile zu überzeugen, dass sie nur eine geregelte Arbeit – wenn sie denn überhaupt zu bekommen ist –die Möglichkeit bietet, die weiteren Verelendung entgegen zu wirken.

Hat man dann das Gebäude der Casa Belén gefunden, so betritt man eine andere Welt: Ordnung, Regeln, liebevolle Zuwendung, nahrhafte Mahlzeiten Hygiene, Spiele und Lernen – auch wenn sie nur stundenweise geboten werden können – haben aus den vernachlässigten, mangelernährten und hoffnungslosen Kindern lauter glückstrahlende, Energie sprühende und aufgeweckte Jungen und Mädchen gemacht.

Selbstverständlich gibt es hier auch eine Kindergartenerziehung, ohne die kein Kind die Chance hätte, in eine Grundschule aufgenommen zu werden, denn hier in Peru muss man eine Aufnahmeprüfung machen, muss schon Lesen und Schreiben können, um überhaupt mit der Schulbildung beginnen zu dürfen.

Die Gruppe der Fünfjährigen ist der Abschlussjahrgang des Kindergartenprogramms, und hier erkannt man die segensreiche Förderung durch die Erzieherinnen besonders deutlich: wache Gesichter, ausgeprägte emotionale Intelligenz, Respekt, vielerlei Kenntnisse und sauber beschriebene Hefte.

Die Erzieherin dieser Kindergruppe vermutet, dass dieses Jahr wohl alle Kinder die Aufnahmeprüfung für das erste Schuljahr bestehen werden.

Ich frage nach der/dem Klassenbesten. Vorgestellt wird mir Alexandra, ein hübsches Mädchen, welches großen Lerneifer zeigt. Sie will alles verstehen und wissen und bedrängt deshalb oft die Lehrerin: „Erkläre es mir!“

Und so ist sie, obwohl ihr Leben alles andere als angenehm oder leicht ist, ein Beweis, dass die raue Wirklichkeit tatsächlich für Stunden ausgeblendet werden kann, ein Beweis, dass die Arbeit aller Beteiligten sich lohnt.

Alexandra wohnt mit ihren Eltern und ihrem kleinen Bruder in einem Raum. Sie werden aber bald dort ausziehen müssen, da die Mutter das Geld für die Miete nicht mehr aufbringen kann. Die Mutter ist fleißig und sauber und tut ihr Bestes, der Vater aber will nicht arbeiten und schlägt Frau und Kinder im Drogen- oder Alkoholrausch. Immer wieder gibt es Streit, Geschrei und Prügel, sodass die Polizei eingreifen muss. Auch mussten schon verschiedentlich Platzwunden versorgt und genäht werden.

Warum die misshandelte Ehefrau ihren Mann nicht verlässt?

Weil alle demnächst notgedrungen zur Großmutter ziehen müssen und diese die Mutter des verantwortungslosen Schläger-Vaters ist. In Großmutters Zimmer wohnt schon ihr anderer Sohn mit Frau und ebenfalls zwei Kindern, also demnächst neun Personen. Alle leben mit von Großmutters kleiner Rente, die sie wegen einer Brustkrebserkrankung bekommt.

Die verzweifelte und völlig überforderte Mutter der fünfjährigen Alexandra „missbraucht“ nun ihre kleine Tochter als einzige Freundin und Vertraute und bespricht mit ihr ihre Situation. Für ihren kleinen Bruder ist Alexandra zudem Mutterersatz in den langen Stunden, wenn die Mutter wegen ihrer Arbeit abwesend ist. Sie behütet den Bruder und schützt ihn vor dem Vater und seinen Ausschreitungen.

Es ist eigentlich unvorstellbar, dass Alexandra die Kraft hat, tagsüber in der Casa Belén nicht nur die traurige Wirklichkeit auszuschalten, sondern auch sich voller Energie dem Lern- und Erziehungsprogramm zu widmen.

Und von diesen Beispielen gibt es viele.

150 Kinder werden zurzeit in der Casa Belén betreut. Die Einrichtung lebt ausschließlich von Spendern aus Peru und aus dem Ausland. Zurzeit ist die finanzielle Lage verzweifelt und das Weiterbestehen der Einrichtung ist nur noch für wenige Monate gesichert. Dann muss sie, wenn keine Hilfe kommt, geschlossen werden. Für circa 20 Erwachsene würde das den Verlust ihrer Arbeitsstelle, die in der Regel wiederum das (Über-) Leben ihrer Familie sichert, bedeuten. Für die 150 Kinder würde dieses wieder den pausenlosen Aufenthalt in den Einzimmerwohnungen bedeuten , ohne Anregung, ohne Erziehung, ohne geregelte Ernährung, ohne die Möglichkeit die Schule besuchen zu können und damit später überhaupt die Chance zu haben, dem Teufelskreis aus Armut, Unwissenheit und Gewalt entkommen zu können.

Damit dieses Szenario nicht eintreten möge, hoffen wir dringend auf weitere Spenden und würden uns sehr freuen, wenn möglichst alle Leser ihr Herz und ihre Geldbörse öffneten und uns mit Geld oder Initiativen unterstützen.

Gisela Willkomm

Ein Auszug aus dem Buch 50 Jahre Kirchengeschichte aus dem Jahre 2004